Unterhält man sich mit Forschern aus Westeuropa oder gar aus Amerika, dann erlebt man oft grundsätzliches Unverständnis für die Vielsprachigkeit der alten Habsburgermonarchie.
Diese Forscher gehen oft grundsätzlich und selbstverständlich vom Prinzip "ein Land - eine Sprache" aus, wie es in vielen Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert der Fall war - oder oft auch staatlicherseits erzwungen worden ist. Das war aber im alten Österreich nur selten der Fall. Lediglich Salzburg, Österreich ob der Enns (Oberösterreich) und bedingt auch Vorarlberg waren in der Spätphase der alten Monarchie einsprachig.
Sie gehen auch davon aus, daß Umgangssprache, Schriftsprache, Unterrichtssprache, Predigtsprache, Amts-, Landtags-/Parlaments- und Verwaltungssprache sowie Gerichtssprache ident waren. Aber auch das war im alten Österreich eigentlich nur im Ausnahmefällen der Fall. Oft verwendeten gleichzeitig amtierende Verwaltungsebenen unterschiedliche Verwaltungssprachen.
Und sie gehen von der Unveränderlichkeit der Sprachzugehörigkeit über lange Zeiträume aus. Auch das gilt für weite Bereiche des alten Österreich nicht. D.h. es ist im alten Österreich oft ganz entscheidend, um welche Zeit - welches Jahrhundert es geht.
Und natürlich geistert die politische "Killerphrase" vom "Völkerkerker Österreich" unverändert durch Wissenschaft und Journalistik, obwohl keine andere europäische Großmacht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts den kleineren Völkern/Sprachgruppen derartig weitreichende Rechte eingeräumt hatte, wie das alte Österreich.
Dazu ein kleines Beispiel: 1913 gab es im alten Österreich-Ungarn eine Universität (Prag) mit tschechischer Vorlesungssprache, zwei mit polnischer Vorlesungssprache (Krakau und Lemberg - diese auch mit ruthenischen Vorlesungen), eine dreisprachige (Deutsch, Rumänisch, Ruthenisch in Czernowitz), eine mit kroatischer Unterrichtssprache (Agram), eine deutschsprachige Universität auch mit italienischen Vorlesungen (Innsbruck), sowie drei mit deutscher Unterrichtssprache (Wien, Graz, Prag) und zwei mit ungarischer Unterrichtssprache (Ofenpest/Budapest und Klausenburg). Bis zur Abtretung der Lombardei (1859) und Venetiens (1866) gab es übrigens mehrere berühmte italienischsprachige Universitäten in der Habsburgermonarchie, z.B. die in Padua.
D.h. für 8 der 11 Hauptsprachgruppen in Österreich - Ungarn gab es auch universitäre Ausbildung in der Muttersprache. Wo war das sonst noch der Fall? Im wilhelminischen Deutschen Reich gab es ausschließlich deutschsprachige Universitäten, in Frankreich ausschließlich französischsprachige, in Großbritannien ausschließlich englischsprachige, in Italien ausschließlich italienischsprachige usw. Dabei waren das alles keine Nationalstaaten, sondern sie umfaßten alle viele Millionen an anderssprachigen alteingesessenen Staatsbürgern. Aber die Millionen von Polen und hundertausenden von Dänen und Franzosen im Deutschen Reich; die Millionen von Occitanier, Franco-Provencalen, Bretonen, die hunderttausenden von Flamen, Basken, Katalanen, Korsen und Italiener in Frankreich; die Millionen von Iren und die hunderttausenden von gälisch sprechenden Schotten und kymrisch sprechenden Walisern in Großbritannien, die besaßen meist nichteinmal Gymnasien in ihrer Muttersprache, geschweige denn eine Universität, ja manche hatten nichteinmal Grundschulen!
Im alten Österreich gab es ein vielfältiges Schulsystem in allen wichtigen Sprachen bis hinauf zu den Universitäten - trotzdem geistert der völlig falsche Begriff "Völkerkerker Österreich" immer noch durch die Welt!
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Die Umgangssprachen der Habsburgermonarchie in Mitteleuropa ab 1521
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