10. RECHT DER ERSTEN NACHT
Wenig hat die Phantasie durch die Jahrhunderte so beflügelt wie das "ius primae noctis", also das Recht des jeweiligen Grundherrn mit jeder Braut aus seinem Herrschaftsgebiet die Hochzeitsnacht zu verbringen, sie also zu deflorieren, vom Mädchen zur Frau zu machen. Die Roman-Literatur darüber ist gewaltig. Dagegen sind die Beläge dafür, daß es dieses "Recht" in Mitteleuropa jemals gab, mehr als rar – zwei Erwähnungen aus dem 16. Jht. im Raum Zürich.
In den Rechtsbüchern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit und in den Sammlungen des Gewohnheitsrecht (Banntaidinge, Dorfordnungen, Weistümern) wird es nirgends erwähnt.
Aus den durchaus üblichen herrschaftlichen Hochzeits- und Mitgift-Steuern ist hier also eine Legende entstanden, die keine Basis besitzt. Gewiß waren manche Grundherrn alles andere als zurückhaltend bei den Frauen ihrer Untertanen, Verführungen und Vergewaltigungen kamen sicher vor, nur beruhten sie eben nicht auf einem Recht.
Schon die praktischen Rahmenbedingungen sprechen dagegen.
Die früher oft sehr mächtigen christlichen Kirchen hätten so einem Recht niemals zugestimmt, denn es widerspricht ja der christlichen Glaubenslehre.
Die Landbevölkerung hätte ein derartiges Recht auch nicht hingenommen. Aufstände gegen die Grundherrn (Bauernkriege) waren ja nicht selten, trotzdem wird nirgends die Abschaffung dieses "Rechts der ersten Nacht" gefordert.
Schon die praktische Ausübung dieses Rechts wäre schwierig gewesen. Die Fürsten Schwarzenberg etwa besaßen mehrere große Grundherrschaften. Darunter die Grundherrschaft Krummau an der Moldau (tsch. Český Krumlov) in Südböhmen. Alleine diese Grundherrschaft umfaßte im Jahr 1848 297 Ortschaften mit insgesamt zehntausenden Einwohnern. D.h. praktisch gesehen gab es in dieser Grundherrschaft jeden Tag mehrere Hochzeiten. Der Fürst hätte also weiß Gott praktische Probleme gehabt, dieses Recht auszuüben. Auch sein Verwalter als Stellvertreter wäre da sicher überfordert gewesen.
Und schließlich vergißt man in diesem Zusammenhang oft, daß ein nennenswerter Teil der Grundherrschaften in geistlichem Eigentum waren. Stifte, Klöster, Pfarrherrschaften – wer hätte denn dort dieses "Recht" überhaupt vollziehen sollen? Sicher, auch die geistlichen Herren waren keineswegs alle Heilige, aber die meisten Äbte doch schon in vorgerücktem Alter.
Wie konnte diese Legende dann eine dermaßen weite Verbreitung finden?
Zum einen hat die große Zahl unehelicher Kinder ohne die Angabe des Vaters, diese Legende immer wieder angeheizt. "Kein Vater genannt – da muß etwas Geheimnisvolles dahinterstecken, war vielleicht der Grundherr selbst der Vater?" – das hört man auch heute noch immer wieder. Und manche unehelichen Kinder versuchten auch ihr eher bedauernswertes Leben dadurch zu verbessern, indem sie sich einen anonymen adeligen Vater "zulegten". Auch manche ledige Mutter mag so die Schande eines ledigen Kindes abzumildern versucht haben, indem sie eben auf einen "adeligen Herrn" als Vater hinwies, den sie nicht habe abweisen können. Hie und da mag das auch wirklich so gewesen zu sein, aber in der großen Mehrzahl der Fälle sicher nicht.
Vor allem aber eignete sich dieses Thema zur politischen Propaganda wie kein zweites. Daß man Steuern zahlen mußte, nun, das war auch in Republiken der Fall, ebenfalls die Wehrpflicht usw. Aber die "lüsternen Grafen", die die Töchter bzw. Bräute ihrer Untertanen deflorieren durften, das war die Idealform der Propaganda gegen Adel und Feudalismus. Die vorgebliche Theaterkomödie "Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro" ("La folle journée ou Le mariage de Figaro") von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, geschrieben 1778 und (nach zahlreichen Streichungen und Änderungen) uraufgeführt 1784 in Paris, also kurz vor dem Beginn der französischen Revolution, ist das Paradebeispiel dafür.
Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart machten wenig später (1786) daraus die Oper "Die Hochzeit des Figaro" ("Le nozze di Figaro"), die bis heute auf den Spielplänen aller Opernhäuser der Welt steht und damit dieses Thema im Gespräch hält.
Der Inhalt ist schnell erzählt, der lüsterne Graf beharrt auf seinem "ius primae noctis", die Braut und ihr schlauer Verlobter "Figaro" können ihn mit Hilfe der Gräfin ausmanövrieren und blamieren.
Der Adel lief Sturm gegen dieses Werk, aber Kaiser Joseph II., dessen Absicht es war, die Macht des Adels zurückzudrängen, hielt seine schützende Hand darüber. Eine Legende als politisches Instrument.
Mit dem Aufschwung des Bürgertums im 19. Jht. kam das "Recht der ersten Nacht" wieder und wurde in hunderten von Romanen und Geschichten abgehandelt. Nun war es Propaganda des Bürgertums, das mit dem Adel um die Vormachtstellung im Staate rang. Nach 1918, Republiken hatten die meisten Monarchien abgelöst, blieb das Thema aktuell, vorbeugend, gegen eine mögliche Restauration.